Das letzte Jahr

Um zu erzählen, was im letzten Jahr so alles passiert ist, muss ich etwas in die Vergangenheit gehen.

Wir sind vor fünf Jahren nach Wien gezogen. Sascha wog damals 85 -90 Kilo. Für einen Mann seiner Größe ist das etwas zu viel, aber nicht bedenklich.

Vor dreieinhalb Jahren ist mein Mann gestürzt. Die anschließenden Schmerzen schob damals keiner auf sein Gewicht, sondern auf den Sturz.

Wir liefen von Arzt zu Arzt, wobei keiner sich die Mühe machte, ihn gründlich zu untersuchen. Es gab die unterschiedlichsten Theorien, vom Muskelfaserriss, über eine Sehnendehnung bis hin zur Stauchung war irgendwie alles dabei. In einem Punkt waren sich alle Ärzte einig: „Er muss sich schonen“.

Dreieinhalb Jahre später, wiegt mein Mann 130 Kilo dank des Schonens, konnte kaum noch laufen, vom Stehen, Liegen, Sitzen mal abgesehen, was ihm alles unerträgliche Schmerzen bereitet. An sehr guten Tagen schaffte er den Weg in den Supermarkt der keine 50 Meter weg ist, an schlechten nicht mal am Stück den Weg zur Toilette, die keine 5 meter entfernt ist.

Vor einem Jahr war er deshalb zur Kur und siehe da, die fanden heraus, dass mein Mann einen leichten Bandscheibenvorfall hat und eine chronische Ischialgie.

Und DAS erklärt die Schmerzen. Denn die Bandscheibe ist so blöd gerutscht, dass sie den Ischias in Mitleidenschaft gezogen hat.

Wenn du dir schon einmal einen Nerv entzündet oder geklemmt hast, kannst du dir vorstellen, welche Schmerzen mein Mann seit diesem Sturz Tag für Tag mitmacht.

Endlich eine Diagnose!!!
Einen Bandscheibenvorfall kann man einfach operieren.

PUSTEKUCHEN

Denn nun vor einem Jahr hieß es dann vom Arzt, das liegt ja nur an seinem Gewicht. Dass er die wahnsinnigen Schmerzen vor dem heutigen Gewicht hatte, interessiere die Ärzte nicht.

Und jetzt wird es witzig: Wegen seinem Gewicht soll er spazieren gehen, laufen, sich bewegen. (Er hat den Bandscheibenvorfall und die chronische Ischialgie und die dazu gehörigen Schmerzen immer noch)
Für seine Schmerzen soll er sich aber weiter schonen und zur Infiltration. Infiltration sind Spritzen mit einem Schmerzmittel die genau in die Schmerzpunkte gesetzt werden.

Und für eine OP, die man bei ihm ohnehin nicht so gerne wegen der vorhandenen Krankheiten durchführt, ist er zu dick. Ja, er bekommt sowas knallhart gesagt.

Ich weiß zwar immer noch nicht, was der Bauch mit dem Rücken zu tun hat bei einer Operation, aber die schieben das ja gerne auf das Narkoserisiko.

Und dann kam sie, völlig überraschend und aus heiterem Himmel. Seine aller erste Panikattacke.

Nach den vielen Jahren voller Schmerzen mit einer ohnehin vorhandenen Depression erschlug sie ihm fast. Atemnot, Herzrasen, Schweissausbruch, Todesangst und Todeswillen, Heulkrämpfe, das volle Programm.

Da ich selber unter diesen Dingen leide, wusste ich, was in meinem Mann vorgeht und wie ich ihm helfen kann.

 

Ich hab ihn überredet mit mir zum Psycho-Sozialen-Notdienst zu gehen. Dort wurde ihm zugehört. Dort wurde er zum ersten Mal, außer von mir, ernst genommen. Er bekam einen Termin beim psycho-sozialen Dienst und ist seither dort in Behandlung.

 

Natürlich fiel der Vorschlag einer Klinik, den Sascha aber ablehnte. Alleine der Gedanke, nicht rausgehen zu können, löste in ihm wieder Angst aus. Nach einigen Terminen haben wir gemeinsam beschlossen, dass er einen Verstärker zusätzlich zu seinem Antidepressiva bekommt, in der Hoffnung, dass er wenigstens wieder etwas schlafen kann. Denn durch die Panik schlief er keine zwei Stunden mehr am Stück. Und wider erwarten hat dieser Verstärker versagt.

Er folgte also die zweite Panikattacke. Mein Mann wollte schon abbrechen. Ich überredete ihn, die Therapie weiter zu machen und der Sache Zeit zu geben.

 

Nach seiner dritten und heftigsten Panikattacke war er soweit einem anderen Medikament eine reale Chance zu geben. Seit dem nimmt er es und es geht ihm besser. Die Panik ist erst einmal Vergangenheit und er kann endlich wieder schlafen. Er spricht mit seiner Therapeutin auch über die Schmerzen. Sie nimmt ihn ernst.

 

Nach über drei Jahren waren mir die Ärzte und ihre Aussagen zu blöd, um ehrlich zu sein. Mein Gedanke dahinter: „die doktoren mir meinen Mann kaputt.“

Ich beschloss also, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen.
Es wurde warm und ich begann meinen Mann mitzunehmen. Egal auf welchem Weg ich war. Einkauf, Trafik, Termine überall nahm ich ihn mit. Er hat mir gelegentlich jeden einzelnen Knochen verflucht.

 

Aber ich gab ihm Ziele. „Bis zur Unterführung, komm das schaffst du…“ (von der Haustür vielleicht 20 Meter) oder: „Am Poller kannst dich ausruhen..“ (meistens irgendwas zwischen 5 und 20 Meter entfernt), oder: „schau mal, da vorne ist ne Bank, da setzen wir uns und rauchen gemütlich eine“ (30 Meter)
Seine Ziele waren immer seinem Schmerzgrad angepasst. Und im Grunde immer nur fünf Schritte weiter, als er dachte er könnte gehen.

 

Und der Erfolg stellt sich ein. Langsam, Stück für Stück. Zuerst schaffte er es bis zur Unterführung ohne Schmerz, dann bis in den Supermarkt, dann bis zum Arzt, danach bis zu Trafik. Mittlerweile schafft er es IMMER von der Busstation bis nach Hause ohne Pause.

 

Wie wir das erreicht hatten, hab ich ihn daran erinnert, dass er versprochen hatte, mit mir schwimmen zu gehen. Ich hab ihm auch gesagt, dass er ja weiß, dass er da nicht viel laufen muss, und das Wasser seinem Rücken gut tun wird.
Und wie mein Mann so ist: „Ein Versprechen wird gehalten, komme was wolle“, gingen wir ins Schwimmbad.

 

Noch in den Nachwirkungen seiner Panikattacken war ihm nicht ganz wohl dabei. Aber ich forderte ihn, ich sagte ihm immer wieder, wie gut er das macht.
Keiner schaute uns blöd an, keiner kommentierte etwas. Und seine Angst fiel ab. (ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil war meine Angst vorm tiefen Wasser) Er dachte nun, er müsse mir helfen meine Angst zu überwinden, und vergaß darüber glatt seine eigene Angst 😀

 

Von da an gingen wir verschiedene kostenlose Bademöglichkeiten ansehen. Das Kaiserwasser wurde unser Lieblingsort. Wenige Menschen, das Wasser so klar und sauber, dass da Wasserrosen wachsen und Fische drin schwimmen. Man kann sehr weit hinein laufen. Wir kauften einen kleinen Wasserball. Den hatten wir ab da auch immer mit. Das Springen im Wasser tat seinem Rücken gut. Das „schweben“, so nenn ich das wenn du einfach nur ohne jede Bewegung im Wasser liegst und dich treiben lässt, hat ihn entspannt. Das Schwimmen selbst hat seine sehr vernachlässigten Muskeln gestärkt.

 

Irgendwann erzählte Sascha der Ärztin beim Infiltrieren, dass wir nun oft schwimmen. Und siehe da, auf einmal kam: „tun Sie das, das ist gut für Sie“
Ach nee, das kann man uns vorher nicht sagen????

 

Und dann sah ich ein kleines Wunder. Nach all der Scheu vor Menschen, die er durch das lange zu Hause sein entwickelt hatte, sprach er mit jemandem. Ich muss immer noch lächeln, wenn ich daran denke.

 

Jetzt, nach sechs Monaten, sind die Erfolge die mein Mann für seine Gesundheit und seine Psyche erzielt, selbst für ihn nicht mehr zu übersehen.

 

Ich hab uns im Fitnesstudio angemeldet, wo wir nun drei Mal die Woche hingehen. Wir stärken seine Muskeln und bauen sie wieder auf. Sein erstes Ziel: Im Winter mit mir übern Christmarkt zu gehen, ohne dass er ständigen Pausen braucht und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen!!

Eure Kerstin

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